Henry
Baumann
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Es heißt, im Haus einer Meeresschnecke kann man die See rauschen hören. Zwar könnte dieses Rauschen mannigfaltig interpretiert werden, dessen Wahrnehmung wird jedoch gelenkt durch die Herkunft des Horchgerätes. Das ist anders bei den Arbeiten von Henry Baumann, sie lösen bei den Rezipient*innen vielfältige Assoziationen aus. Eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Schneckenhaus liegt vor, Baumanns Werke erinnern jedoch ebenso an Hörner oder Croissants und die Geräusche, die darin zu hören sind, sind unterschiedlicher Art. Henry Baumann fertigt audiovisuelle Skulpturen an, für die er verschiedenste Sounds kreiert, die zu einem eigenständigen Erfahren seiner Werke einladen. Wer das möchte, kann in diesen Objekten Platz nehmen, sich hineinlegen, sie als Sprech- und Hörrohr verwenden oder was auch immer einem dazu einfällt. Damit werden seine Skulpturen Teil eines Settings, das die Betrachter*innen dazu angeregt, Kontakt zueinander aufzunehmen. Das gilt in besonderem Maße für o. T, das zwei Öffnungen hat, und dessen Inneres der Austragungsort eines exklusiven Aufeinandertreffens sein kann. Das Kunstwerk ist somit der Katalysator eines Dialogs, die Betrachter*innen machen einander im Zuge ihrer Begegnung Vorschläge zu Möglichkeiten der Ansicht und der Nutzung und handeln damit gemeinschaftlich die Bedeutung der Objekte aus. Den Skulpturen einen Titel zu geben und damit eine konkrete Lesart vorzuschlagen, ist daher auch nicht im Sinne der Intention von Baumann. Der Künstler will vielmehr ein möglichst breites Diskursfeld schaffen; indem seine Arbeiten gezeigt werden, werden stetig neue Bedeutungsebenen offenbar, die sein Werk in einem sich fortlaufend wandelnden Licht erstrahlen lassen.
Das, was seit mindestens 80 Jahren die „Aura“ des Werkes genannt wird (W. Benjamin), steht damit wieder einmal zur Disposition. Obwohl die Arbeiten von Baumann in mühsamer Arbeit kunstvoll gefertigt werden, sollen die Betrachter*innen nicht ehrfurchtsvoll Distanz wahren, sondern sich physisch und geistig mit den Objekten auseinandersetzen, sich körperlich auf sie einlassen. Das ermöglicht reizvolle Hörerlebnisse, spezifische physische und soziale Erfahrungen, die situative Umdeutung des Ausstellungsraumes in ein Forschungsfeld. Der Künstler spricht selbst davon, dass er voller Neugierde ist, wie die Besucher*innen mit seinen Objekten interagieren. Er würde – so sein Wortlaut – den Leuten am liebsten stundenlang dabei zusehen, wie sie alleine oder gemeinschaftlich Spaß haben an seinen „Hörnchen“. Spaß zu haben kann bekanntlich nicht verordnet werden, nichts desto trotz hat Baumann die besten Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir mit Freuden unsere Ohren in und an seine Gebilde halten.
Ich habe bislang in Bezug auf Henry Baumanns Objekte scheinbar vorbehaltlos von Kunstwerken gesprochen, obgleich diese Arbeiten seinem Werdegang zufolge eindeutig dem Design zuzuordnen sind. Zwar ist diese Unterscheidung an sich nebensächlich, jedoch ist sie im Rahmen der Auseinandersetzung mit Baumanns Werk durchaus vielsagend. Denn die Einordnung in das Feld der Kunst lässt sich mit Blick auf obiges Argument – die Verleihung von Bedeutung durch die Rezipient*innen – ohne Weiteres rechtfertigen. Es handelt sich bei Baumanns Arbeiten nicht um Gestaltungslösungen für Alltagsprobleme in Haushalt oder Beruf, sie verweisen vielmehr auf einige Fragen, die den Kern unseres Daseins berühren: Wie verhält sich der Körper zur Umwelt, welche Beziehungen pflegen wir zu unseren Mitmenschen, wie überwinden wir die Distanz zu Fremden, wie können wir zu neuen Formen der Wahrnehmung gelangen? Indem diese Fragen unbeantwortet bleiben, indem Baumanns Arbeiten dazu verleiten, sich weiterführend daran abzuarbeiten, können seine Objekte durchaus als Werke der Bildenden Kunst rezipiert werden. Es ist jedenfalls Henry Baumann ebenso wie dem Kunstpublikum zu wünschen, dass seine Arbeiten künftig von Kurator*innen aus diesem Feld vermehrt berücksichtigt werden.